Gute wissenschaftliche Praxis, wissenschaftliches Fehlverhalten und wissenschaftliche Integrität: Was hat es damit auf sich?
Was ist wissenschaftliches Fehlverhalten?
In ihren Empfehlungen „Zum Umgang mit wissenschaftlichem Fehlverhalten in den Hochschulen“ vom 06. Juli 1998 gibt die Hochschulrektorenkonferenz folgende Definition:
„Wissenschaftliches Fehlverhalten liegt vor, wenn in einem wissenschaftserheblichen Zusammenhang bewusst oder grob fahrlässig Falschangaben gemacht werden, geistiges Eigentum anderer verletzt oder sonst wie deren Forschungstätigkeit beeinträchtigt wird. Entscheidend sind jeweils die Umstände des Einzelfalles.“
Kategorien für wissenschaftliches Fehlverhalten
Mousavi & Abdollahi, 2020 teilen wissenschaftliches Fehlverhalten grob in fünf Kategorien ein:
- Erfinden von Daten, Experimenten oder Referenzen,
- Verfälschungen wie das Weglassen von Datenpunkten oder Daten, die die Hypothese nicht unterstützen, Manipulation von Abbildungen,
- Plagiate, d.h. Übernahmen von fremden Inhalten oder Gedanken, ohne diese kenntlich zu machen; hierzu zählen auch Übernahmen aus eigenen, bereits publizierten Artikeln, also Eigenplagiate,
- fehlende Zuweisung der Autor:innenschaft oder Inanspruchnahme der Autor:innenschaft, obwohl die Person keinen Beitrag geleistet hat, wie beispielsweise Geisterautor:innenschaft oder Ehrenautor:innenschaft,
- unredliches Verhalten im Rahmen des Peer-Review-Verfahrens wie insbesondere Diskriminierung, Aufstellen von falschen Behauptungen oder Manipulation des Verfahrens.
Nach dieser Kategorisierung zählen ebenfalls zu wissenschaftlichem Fehlverhalten:
- „Salami-Taktik“, das heißt, die Aufteilung von Einzelergebnissen auf mehrere Artikel
- gleichzeitige Einreichung eines Manuskripts bei mehreren wissenschaftlichen Zeitschriften und/oder Konferenzen.
Auch die Veröffentlichung einer Übersetzung des eigenen oder fremden bereits publizierten Artikels, ohne entsprechende Kennzeichnung, gilt als Plagiat.
Die Empfehlung der Hochschulrektorenkonferenz wertet unter anderem zusätzlich auch als Fehlverhalten:
- Falschangaben in Förderanträgen oder bei Bewerbungsverfahren,
- Sabotage von Versuchsanordnungen und Vernichtung von Primärdaten entgegen disziplinspezifischen Grundsätzen.
Eine Mitverantwortung kommt laut dieser Empfehlung auch solchen Personen zu, die sich am Fehlverhalten anderer aktiv beteiligen, davon wissen oder wissentlich an fehlerbehafteten Publikationen als Ko-Autor:innen fungieren oder ihre Aufsichtspflicht verletzen.
Im lebenswissenschaftlichen Bereich kann auch ein Verstoß gegen ethische Regeln bei der human- und tiermedizinischen Forschung als wissenschaftliches Fehlverhalten gewertet werden. Hierzu gehört auch, dass bei Forschung am Menschen oder an Tieren in der Regel Nachweise zu erbringen sind, dass das jeweilige Projekt im Vorfeld von der jeweils zuständigen Ethikkommission überprüft und genehmigt wurde.
Zudem sind bei lebenswissenschaftlicher Forschung Interessenskonflikte in einem entsprechenden Abschnitt in der Publikation zu deklarieren. Diese liegen beispielsweise vor, wenn die Forschung durch Unternehmen oder Institutionen finanziert wurde, diese also ein eigennütziges oder kommerzielles Interesse hegen. Vorsätzliches Verschweigen von oder Falschangaben bei zu deklarierenden Interessenskonflikten kann als Fehlverhalten gelten. Ähnliches gilt für Falschangaben bei der Zugehörigkeit zu einer Institution.
Grundsätzlich definieren wissenschaftliche Communities, forschende Einrichtungen, Fachgesellschaften und Zeitschriftenbetreibende jeweils mit Blick auf die eigene Disziplin, was im Einzelnen als wissenschaftliches Fehlverhalten gewertet wird. Entsprechende Informationen sind daher auf den Websites der Einrichtungen (etc.) zu finden.
Was ist gute wissenschaftliche Praxis?
Wissenschaftliches Fehlverhalten liegt generell bei einem Verstoß gegen die gute wissenschaftliche Praxis vor. Mit dem Kodex „Leitlinien zur Sicherung guter wissenschaftlicher Praxis“ der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) soll erreicht werden, dass an wissenschaftlichen Einrichtungen Strukturen und Verfahren selbstverpflichtend etabliert werden, die die wissenschaftliche Integrität fördern.
Der Kodex besteht aus 19 Leitlinien, die seit Sommer 2019 von Hochschulen und außeruniversitären Forschungseinrichtungen verbindlich umgesetzt werden müssen, um Forschungsgelder von der DFG zu erhalten. Für diejenigen Einrichtungen, die bereits die vorherigen Regelungen aus der Denkschrift der DFG „Sicherung guter wissenschaftlicher Praxis“ rechtsverbindlich umgesetzt haben, bestand eine Übergangsfrist bis zum 31.7.2021.
Die ersten 17 Leitlinien thematisieren in erster Linie Prinzipien des guten wissenschaftlichen Arbeitens; die beiden letzten stellen das Vorgehen bei Nichtbeachtung der Grundsätze dar.
Aufgrund der Pflicht zur rechtsverbindlichen Umsetzung haben die meisten Universitäten, Hochschulen und Forschungseinrichtungen entsprechende Strukturen geschaffen, die gute wissenschaftliche Praxis und wissenschaftliche Integrität fördern. Neben der Festlegung von Verfahren gehört dazu unter anderem auch, dass das Thema in die wissenschaftliche Ausbildung integriert wird und Ombudspersonen als Kontakt benannt sind. Weitere Informationen dazu finden Sie auf den Seiten der jeweiligen Einrichtungen.
Darüber hinaus können sich Forschende auch an das von der DFG eingesetzte Ombudsgremium für die deutsche Wissenschaft wenden.
Zusammengefasst lässt sich sagen, dass die Regeln zur guten wissenschaftlichen Praxis sicherstellen, dass Wissenschaft dem Erkenntnisgewinn verpflichtet bleibt; gleichzeitig unterstreichen sie auch die Verantwortung der Forschenden für ihre Ergebnisse und regeln den Umgang der Forschenden untereinander.
Korrektur und Zurückziehen wissenschaftlicher Artikel
Werden in einer Publikation Fehler oder Verstöße gegen die gute wissenschaftliche Praxis festgestellt, dann sollten diese Publikationen – je nach Schwere der Fehlerhaftigkeit – entweder korrigiert oder zurückgezogen werden, damit künftige Forschung nicht darauf aufbaut. Hierzu wird eine entsprechende Nachricht („Notice“) veröffentlicht, die mit der Ausgangspublikation verknüpft wird. Man unterscheidet nach Sox & Rennie, 2006 folgende Arten:
- Correction: bei kleineren Fehlern, die sich leicht korrigieren lassen und die die Grundaussage des Artikels nicht in Frage stellen
- Expression of Concern: bei Anfangsverdacht seitens der Herausgeber:innenschaft, dass Fehler oder Fehlverhalten vorliegt
- Retraction: bei größeren Fehlern, die die Grundaussage des Artikels in Frage stellen sowie bei wissenschaftlichem Fehlverhalten.
Generell ist zu beachten, dass zwischen einer Expression of Concern und dem eventuell tatsächlichen Zurückziehen des Artikels je nach Dauer der Überprüfung mehrere Wochen bis Monate vergehen können.
Die Nachricht informiert im Idealfall darüber, welche Art von Fehlerhaftigkeit vorliegt, welcher Artikel betroffen ist, wer den Anstoß gegeben hat, welche Teile der Publikation betroffen sind, inwieweit der:die Autor:in der Nachricht zugestimmt hat und führt mögliche Gründe für die Notwendigkeit der Korrektur oder des Zurückziehens aus.
Je nach Schwere der Fehlerhaftigkeit und Verlagspraxis bleibt die Ausgangpublikation entweder erhalten, wird ersetzt, mittels Wasserzeichen markiert oder – in eher seltenen Fällen – bis auf die Metadaten komplett gelöscht. Einträge in Literaturdatenbanken werden ebenfalls entsprechend markiert. Letzteres passiert mit einer gewissen Zeitverzögerung.
Ein Verfahren zur Korrektur oder zum Zurückziehen kann von allen Akteur:innen im Wissenschaftssystem in Gang gesetzt werden. Besondere Verpflichtung kommt dabei aber den Autor:innen zu, da sie die inhaltliche Verantwortung für die Publikation tragen.
Des Weiteren sind aber auch die Herausgebenden in der Pflicht, den tatsächlichen Prozess der Korrektur oder des Zurückziehens anzustoßen. Viele Zeitschriften haben sich mittlerweile auch eine „Retraction Policy“ gegeben, in denen das Verfahren definiert wird. Informationen dazu finden sich auf den Webseiten der jeweiligen Zeitschrift.
Es muss bedacht werden, dass es eine gewisse Dunkelziffer bei dem Thema gibt: Nicht alle Publikationen, die Fehler und Fehlverhalten enthalten, werden tatsächlich entdeckt, korrigiert oder zurückgezogen. Es empfiehlt sich somit, mit wissenschaftlicher Literatur stets kritisch umzugehen.
Keine zurückgezogenen Publikationen zitieren
Sofern nicht konkrete Fälle wissenschaftlichen Fehlverhaltens Gegenstand einer Publikation sind, sollten zurückgezogene Artikel nicht mehr zitiert werden, um eine Weiterverbreitung der Fehler zu vermeiden. Zudem können fehlerhafte Publikationen Überblicksartikel wie Reviews und Metaanalysen verzerren. Daher sollte vor der Einreichung eines Manuskripts die Referenzliste dahingehend überprüft werden, ob zu den dort zitierten Publikationen Retractions vorliegen.
Für Publikationen mit einem Digital Object Identifier (DOI) kann beispielsweise über eine Recherche bei CrossRef ermittelt werden, ob eine Statusänderung vorliegt.
Viele Verlage haben auf den Artikelseiten zudem auch Buttons integriert, mit denen mit einem Mausklick überprüft werden kann, ob neue Versionen, Korrekturen oder Retractions vorliegen.
In fachübergreifenden Datenbanken wie beispielsweise PubMed gibt es zudem die Möglichkeit über den Publikationstyp nach „Corrections“, „Retractions“ und „Expressions of Concern“ zu filtern und diese so zu identifizieren. Eine Zeitverzögerung beim Einspielen in die Datenbank ist möglich.
Einige Literaturverwaltungsprogramme wie Endnote und Zotero arbeiten zudem mit „Retraction Watch Database“ zusammen, welches entsprechende Fälle sammelt, d.h. Einträge aus der Literaturliste, die auch in der Datenbank vermerkt sind, werden entsprechend markiert. Die Datenbank kann allerdings unvollständig sein. Zu beachten ist, dass das bewusste und mutwillige Zitieren von zurückgezogener Literatur ebenfalls als wissenschaftliches Fehlverhalten gewertet werden kann.
Fehler, wissenschaftliches Fehlverhalten und Open Access
Aktuell gibt es keine Anhaltspunkte, dass Open-Access-Publikationen häufiger oder seltener als Closed-Access-Publikationen von Korrekturen oder Retractions betroffen sind.
Publikationen in Open-Access-Zeitschriften durchlaufen ebenso wie alle anderen ein Peer-Review-Verfahren. Nicht alle Fehler oder tatsächliches Fehlverhalten werden im Rahmen des Peer-Review-Verfahrens auch tatsächlich entdeckt; die Gründe hierfür sind vielfältig und reichen von einer Überlastung der Begutachtenden über fehlende Informationen für eine umfassende Prüfung von Daten bis hin zu geschickter Täuschung bei vorsätzlichem Betrug.
In Einzelfällen nutzen Forschende vorsätzlich sogenannte „Predatory Journals“, um bewusst einer umfassenden Begutachtung zu entgehen und so ungeprüfte Ergebnisse zu publizieren.
Unterstützung von wissenschaftlichem Fehlverhalten durch „Paper Mills“ und akademisches Ghostwriting
Seit einiger Zeit wird zunehmend von sogenannten „Paper Mills“ berichtet, die im Auftrag von Forschenden wissenschaftliche Artikel verfassen und diese bei Zeitschriften unter deren Namen einreichen. Es versteht sich von selbst, dass diese oder andere Formen des akademischen „Ghost Writing“ als wissenschaftliches Fehlverhalten gelten. Es handelt sich hierbei um ein Plagiat, da hier die Arbeit von anderen als die eigene ausgegeben wird. Darüber hinaus ist fraglich, wie die in den Publikationen berichteten Ergebnisse zustande gekommen sind.
Was kann ich tun, wenn mir Fehler in einer Publikation auffallen?
Bei bereits veröffentlichten Artikeln kann man sich bei Fehlern, die über reine Tippfehler hinausgehen, an die Autor:innen direkt oder das Herausgeber:innengremium einer Zeitschrift, einer Konferenz oder eines Buches wenden. Letzteres gilt auch, wenn man nachträglich Fehler in seiner eigenen Publikation findet. Fehler, die man im Rahmen der Peer-Review-Begutachtung bemerkt, werden im Gutachten vermerkt. Bei Preprints oder anderweitig publizierten wissenschaftlichen Beiträgen, empfiehlt es sich, die Autor:innen direkt zu kontaktieren.
Was kann ich tun, wenn ich von Fehlverhalten erfahre oder durch das Fehlverhalten anderer betroffen bin?
Bei bereits veröffentlichten Publikationen oder Publikationen im Begutachtungsverfahren kann man sich ebenfalls an das Herausgeber:innengremium der Zeitschrift wenden. Findet das Fehlverhalten auf einer anderen Ebene statt, empfiehlt es sich, sich an die Ombudsperson der eigenen Einrichtung oder an das Ombudsgremium für die deutsche Wissenschaft zu wenden. Je nach Kontext kann es hilfreich sein, vorher die Personen, die das mutmaßliche Fehlverhalten begangen haben, zu kontaktieren, um sicherzustellen, dass kein Versehen oder Missverständnis vorliegt.
Wo gibt es weitere Informationen zu diesem Thema?
Die Plattform „Retraction Watch“ sammelt Beispiele für wissenschaftliches Fehlverhalten, „Retractions“ und „Corrections“ und arbeitet diese wissenschaftsjournalistisch auf. Darüber hinaus werden bekanntgewordene Fälle in einer Datenbank gesammelt und mit Metadaten beschrieben, um diese für Analysen suchbar und zugänglich zu machen.
Das Committee on Publication Ethics (COPE) setzt sich für ethische Grundsätze im wissenschaftlichen Publikationswesen ein und wendet sich in erster Linie an Herausgebende und Verlage. COPE bietet umfassende Materialien zum Themenkomplex an. Dazu zählen z.B. Handreichungen oder Fallbeispiele.
Siehe auch
Predatory Publishing oder Raubjournale bei Open-Access-Zeitschriften
Peer Review: Warum ist es wichtig?
Disclaimer
Bitte beachten Sie: Unser Service kann keine verbindliche Rechtsberatung anbieten, sondern stellt Informationen zur ersten Orientierung bereit. ZB MED – Informationszentrum Lebenswissenschaften hat die Angaben auf den folgenden Seiten sorgfältig geprüft, übernimmt aber für mögliche Fehler keine Haftung. Soweit nicht anders angegeben, beziehen sich Ausführungen zu einzelnen Rechtsnormen auf deutsches Recht (Stand FAQ 08/2022).
Kontakt
Dr. Jasmin Schmitz
Tel: +49 (0)221 478-32795
E-Mail senden
NACHGEFRAGT bei ZB MED: Retractions und Plagiate - muss das sein?
Quellenangaben
Zum Umgang mit wissenschaftlichen Fehlverhalten in den Hochschulen: Empfehlung des 185. Plenums der Hochschulrektorenkonferenz vom 6. Juli 1998. Internet Archive Wayback Machine. (abgerufen am 05.12.2022)
Table 1: Most common types of research misconduct. In Mousavi, T. & Abdollahi, M. (2020). A review of the current concerns about misconduct in medical sciences publications and consequences. DARU Journal of Pharmaceutical Sciences, 28, 359–369.
Leitlinien zur Sicherung guter wissenschaftlicher Praxis: Kodex vom September 2019, korrigierte Version 1.1, Deutsche Forschungsgemeinschaft e.V.
Sox, H. C. & Rennie, D. (2006). Research Misconduct, Retraction, and Cleansing the Medical Literature: Lessons from the Poehlman Case. Annals of Internal Medicine, 144(8), 609-613.
Alam, S. et al. (2020). Potential „paper mills“ and what to do about them – a publisher’s perspective. COPE, 12. Oktober 2020. (abgerufen am 05.12.2022)
Weiterführende Links
Wissenschaftliche Integrität an der Universität zu Köln
Universität zu Köln – Medizinische Fakultät: Wissenschaftliche Integrität & Qualitätssicherung
Ombudsman für die Wissenschaft
Crossref
Errata, Retractions, and Other Linked Citations in PubMed
Oranski, I. (2022): Retractions are increasing, but not enough. Nature, 608, 9.
Retraction Watch
Retraction Watch Database
COPE-Website
Zusätzliche Informationen
ZB MED (2020). Nie mehr wissenschaftliches Fehlverhalten - Teil 1: Elektronische Laborbücher helfen! [Video] YouTube, 10. Dezember 2022.
ZB MED (2021). Nie mehr wissenschaftliches Fehlverhalten – Teil 2: Retractions und Plagiate [Video]. YouTube, 4. Februar 2022.
Schmitz, J. & Schroeder, C. (2022). Gefälschte Ergebnisse in Fachjournalen [Radiobeitrag]. Deutschlandfunk Kultur, 24. März 2022.
Schmitz, J. (2024). Beyond Predatory Publishing: Weitere fragwürdige Angebote im wissenschaftlichen Publikationswesen. Scholarly Communications in Transition, 10.01.2024. (abgerufen am 30.01.2024)